Schreiben gegen die Leser

Beim letzten Bahnstreik schrieb der Focus einen Kommentar, warum die Lokführergewerkschaft GDL nicht lange streiken wird „Weselsky verzockt sich! Fünf Gründe, warum er einlenken muss.“. Die waren populistischer Unsinn und ohne handfester Anhaltspunkte, aber das kennt man vom Focus seit Jahrzehnten. Am nächsten Tag wurde das Streik-Ende bekannt. Der Focus schrieb den Artikel in die Vergangenheitsform um, nahm einen Grund raus und hatte nun vier Gründe, aus denen der Streik beendet wurde unter dem Titel „Vier Gründe, warum Weselsky der Schlichtung zustimmen musste“. Die Redaktion machte sich nicht mal die Mühe, die Web-Adresse zu ändern, die lautet immer noch „fuenf-gruende-warum-er-einlenken-muss“ (Screenshot). Beim Focus mangelt es also nicht nur an der Recherche, sondern die Redaktion versucht aktiv, Müll in die Ticker zu drücken.

Interessant ist, dass mit der Meinung der Bahn und der Bahnkunden berichtet wird. Es hätte genauso gut ein Artikel über Arbeitsbedingungen und Lohngefälle werden können. Als einziger Name des Bösen wird der Gewerkschafts-Chef genannt. Warum hat der Focus nicht die Bahn-Vermittler und ihre Methoden beleuchtet?

Community

Anderes Beispiel. Wer Schokolade isst, bleibt schlank! titelte die Bild und druckte darunter einen PR-Werbetext. Auch der Focus lies sich die Story natürlich nicht nehmen, hundert andere Blätter folgten der Vorlage. Inhalt war in den Beiträgen natürlich nicht zu finden. Dafür trugen die Kommentatoren unter den Artikeln viele Informationen zum Thema zusammen. Etwa dass die Webseite des zitierten Institutes keine drei Monate alt war. Oder dass die Studie keinen Zusammenhang zwischen Schokolade und Abnehmen herstellt, sondern nur eine zufällige Korrelation findet.

Trolle

Natürlich muss man von einem Journalisten voraussetzen, dass er das Alter einer Webseite prüft und einen Wissenschaftler auf die Studie schauen lässt, wenn er sie nicht versteht. Aber selbst wenn er sorgfältig recherchieren würde, liefert die Community auch Fallbeispiele, weitere Blickwinkel und Mediendaten, die eine Redaktion niemals alleine bekommen könnte. Nur nutzt keine News-Seite diese Ressource sinnvoll. Statt dessen werden die Autoren von Pöbel-Kommentaren unter miesen Artikeln als Trolle beleidigt, während sich die feinen Schreiber teilweise immer noch als Qualitätsjournalisten bezeichnen. Gerade erst bemitleidete sich der Tagesspiegel für Lügenpresse-Vorwürfe.

Dabei sieht sich die Community der vermeintlichen Trolle gar nicht so ernst, sondern kann auch über sich selbst lachen. Und sie schreibt höflich brauchbare Inhalte, sobald ein Artikel weniger Grütze enthält.

Lösung

Redakteure von News-Seiten sollten mit ihrer Community zusammen ihre Artikel schreiben. Sie können weiterhin PR-Müll wiederkäuen und ihre Berichte von Blogs kopieren, um mit ihrem Namen und ihrer Geschwindigkeit bei den Aggregatoren (Google News) ganz oben zu stehen. Aber dann müssen die Redakteure wenigstens Kommentare lesen und sofort berücksichtigen. Wenn ein neuer Artikel zum Thema kommt, muss vom alten auf diesen verlinkt werden, so dass eine Story und keine Artikel-Halde entsteht. Und wenn kein ganzer Artikel folgt, sollten Updates erklären, was aus dem Thema geworden ist.

Um die Medien der User verwenden zu können, braucht die komplette Seite eine freie Lizenz. Diese ist auch die einzige ehrliche Motivation für die Community, denn sonst denken die Leute, ihnen würden ihre Inhalte weggenommen.

Dass News-Seiten möglichst schnell Artikel raushauen und nur einen Aspekt einer Geschichte erklären, ist als Format nicht schlecht. Sie sollten ihre eigenen Beiträge und die ihrer Community dann aber nicht wegwerfen, sondern je nach Feedback und weiterem Verlauf des Themas in richtung einer Reportage ausbauen. So, wie es die Leser mit ihren Kommentaren voranzutreiben versuchen.

Update 9. Juni 2015

Die Neue Züricher Zeitung schrieb einen Artikel über Hausautomation unter dem Titel Innovationen für den Hausgebrauch. In dem einzigen Kommentar darunter erkläre ich, warum eine entscheidende technische Aussage im Text nicht stimmen kann. Außerdem frage ich nach der Grundlage der Behauptung, die sehr offensichtlich direkt aus der Marketing-Abteilung des betroffenen Herstellers kommt. Eigentlich müsste der Autor jetzt seine Quellen prüfen. Und angeben. Das wäre das journalistische Minimum. Passiert ist gar nichts.

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